ALALAY – Kinderdorf und Straßenkinder (by Carina)

Gleich ein Spoiler zu Beginn… dies ist ein laaaaaaanger persönlicher Erfahrungsbericht. Falls du in unserer schnellen Welt nicht genug Zeit findest, Details zu Straßenkindern in Bolivien, das Unterstützungsprogramm Alalay und meine persönliche Erfahrung als Freiwillige zu erfahren, hier short und sexy: Alalay unterstützt mit viel Herz und Hirn Straßenkinder in prekären Situationen in Bolivien und eröffnent ihnen erfolgreich Chancen fürs Leben. Als Freiwillige habe ich mehr von Alalay und den Kindern gelernt, als ich mir wünschen hätte können. Selbst in kurzer Zeit war genug Platz, um mich einzubringen, zu wirken und ein kleiner Familienteil zu sein. Hinter jedem Kind steckt eine persönliche, individuelle und meist grausame Geschichte, sichtbare und unsichtbare Narben, die hier akzeptiert und angenommen werden. So viel liebevolle Unterstützung kann man als Pateneltern unterstützen und direkt einem Kind eine bessere Zukunft schenken. Meine Zeit bei Alalay hat jedenfalls all meine Erwartungen bei weitem übertroffen. Lese selbst:

Wie meine Reise begann…

Kennst du das Gefühl, im Hamsterrad zu laufen und den Bezug zur Lebensrealität verloren zu haben? Mir geht es immer wieder so, wenn in meinem Luxusleben in Österreich die Routine zur Gewohnheit wird. Obwohl ich auch hier Bezug zu unterschiedlichen Lebenswelten und Kulturen aufbaue und versuche meine Zeit sinnvoll zu nutzen, haben mir der Zufall und die Tatsache “durchs Redn kommen die Leid zam”, eine besondere Lebenserfahrung geschenkt. Im Gespräch mit meiner lieben Freundin Steffi zu meinem Wunsch durch Volunteering Einblicke in die Soziale Arbeit zu bekommen, erinnert sie mich an Alalay, das ihre Schwester Kathi seit vielen Jahren unterstützt. Und prompt bin ich in Kontakt mit Claudia, der Gründerin von Alalay. Und nach einem gefühlten Augenblick werde ich auch schon herzlich in Bolivien willkommen geheißen.
(Sidenote: in Wahrheit waren viele Gespräche mit meinem Arbeitgeber, Start eines Studiums, Abschluss einer Ausbildung, Ruhendlegung meines Nebenbusinesses und Anfrage einer Bildungskarenz dazwischen…)

Wo ich gelandet bin: Fundación ALALAY Kinderdorf Huajchilla und Straßernprogramm

An meinem ersten Tag bekomme ich eine Einführung im Hauptoffice von Alalay, von Karina, der Leiterin des Straßenprogramms und Viby, der Koordinatorin des Kinderdorfs in Huajchilla. Ich bekomme einen tollen Überblick zu Prävention und Schutz, den verschiedenen Stationen des Programms und erfahre von Kontaktaufnahme und Beziehungsaufbau mit Kindern und Familien auf der Straße und dem ersten wichtigen Schritt: den Kindern eine Identität zu geben. Denn, wie ich auch vorab selbst erleben durfte, ist Bolivien ein beeindruckendes und wunderschönes, aber auch ein armes Land – mit korrupter Politik und Diskriminierung der eigenen Einheimischen, in dem viele Menschen auf der Straße leben, Kinder unter prekären Umständen in Mienen arbeiten und bis zu ihrem Tod oftmals nicht mal existiert haben. Zumindest offiziell. Und damit haben sie auch keinen Zugang zu Gesundheit, Bildung oder jeglicher Unterstützung.

Das bunte Kinderdorf

Für ein Monat bin ich dann in einem der Kinderdörfer untergebracht. Im Aldeas Huajchilla, La Paz, was 1 – 1 1/2 holprige Minibusstunden vom Zentrum von La Paz entfernt liegt und von Bergen umgeben ist. Hier gibt es 4 Häuser, in denen 35 Kinder unterschiedlichen Alters und in unterschiedlichen Stationen des Programms leben und von Pädagog*innen, Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen mit großem Herz und guter Seele betreut werden. Die Kinder sind alle mit Traumata hier, von ihrem Leben auf der Straße und auch von Misshandlungen. Die Spuren sind manchmal sichtbar durch Narben am Hals, oder am ganzen Körper, oder auch spürbar durch aggressives oder auffälliges Verhalten. Aber im Grunde lebt hier ein bunter Haufen ganz “normaler”, fröhlicher Kinder und Jugendlicher, die sich für Dinos und Frisuren interessieren und von ihrem neuen Schwarm erzählen. Zumindest hier sieht ihre Lebensrealität nämlich ganz anders aus: bei Alalay erleben die Kinder Respekt, Liebe und ein geschütztes Zuhause, in dem sie gehört und gesehen werden… mit allem, was sie sind.

Ich kenne Österreich – da sind meine Pateneltern her

Ich werde gleich herzlich aufgenommen, die Kids interessieren sich für mich und stellen Fragen. Viele kennen Österreich. Einerseits, weil schon einige Freiwillige aus Österreich da waren, oder weil sie z.B. Anna kennen, die über Alalay Österrreich Freiwilligeneinsätze und Patenschaften koordiniert. Ein paar der Kids erzählen, dass ihre Pateneltern aus Österreich sind und ich bin überrascht: Du kennst sie? Ja! Die Kids bekommen immer wieder Briefe, sie zeigen mir Fotos oder kleine Geschenke der Pateneltern. Einige erzählen von dem persönlichen Treffen mit ihren Pateneltern oder, dass sie ihre Ausbildung finanzieren. Toll! Spenden mit Herz, die direkt ankommen und ein individuelles Kinderleben verändern.

Voluntariat – Lebenserfahrung verdienen, nicht nur Geld

Meine Erwartungen von einem Volontariat und generell von Alalay wurden bei weitem übertroffen. Leider ist ein Volontariat auch etwas, was man sich selbst erst mal leisten können muss. Denn man spender Zeit, ohne Geld. Dafür kann ich im Kinderdorf wohnen (in einem Zimmer im Officegebäude. Wenn mehr Freiwillige da sind, gibt es auch ein Haus für Freiwillige) und das gesunde, täglich frisch gekochte Essen von Fabi und ihrer Hilfe gemeinsam mit den Kids oder den Büroleuten genießen. Und das Wichtigste: Erfahrung gewinnen und fürs Leben lernen! Von Minute 1 an habe ich mich gut abgeholt und als Teil des Teams bzw der Familie gefühlt. Ich hatte mir von einem kurzen, 1 monatigen Volontariat nicht viel erhofft und werde mit unzähligen Einblicken, Erfahrungen und Möglichkeiten überrascht. Die ersten beiden Wochen toure ich durch die 4 Häuser und lerne die Kids und Tagesabläufe kennen. Ich helfe bei der Morgenroutine, bringe Kinder zur Schule und hole sie ab, unterstütze bei Hausaufgaben und erlebe, wie sich die süßen Kleinen dabei zu Nerven-Monsterchens entwickeln. Ich übernehme Arzttransporte, helfe den Kids im Haushalt und bei der Gartenarbeit, spiele UNO, lese vor und bekomme dabei gleich private Spanischstunden von den Kindern, die meine Aussprache ausbessern. Ich mache Frisuren und werde frisiert. Oft bin ich von 5 bis 20 Uhr mit den Kids. Dabei werde ich immer wieder ins kalte Wasser geschmissen und z.B den halben Tag mit 6 Buben ohne Vorwarnung alleine gelassen. Einer der Buben büchst dabei immer wieder aus und ich starte panische Suchaktionen, um im Nachhinein zu erfahren, dass er das immer macht und das kein Problem ist. Ich kenne die Buben erst seit 1 Tag und hätte das gern vorher gewusst. Aber: learning by doing. Die nächsten beiden Wochen darf ich zusätzlich die Sozialarbeiterinnen unterstützen, bekomme kleine Einblicke in das Aufgabenfeld, bin dabei, wenn die Mama aus dem Gefängnis anruft und die Oma ihre Enkeltochter sehen will, oder wenn ein Disziplinargespräch mit Mädels stattfindet. Ich biete auch Aktivitäten für die Kids an: Makramee-Armbänder knüpfen. Ich toure durch die Häuser und die Kids sind begeistert und wollen gar nicht mehr aufhören. Ich soll nochmal kommen, um neue Muster zu lehren. Dafür ist leider keine Zeit. Außerdem darf ich das Straßenprogramm begleiten, was ein ganz eigenes Kapitel für sich ist. Ich erlebe zudem all diese Momente und Einblicke, praktiziere Spanisch, tauche tief in eine neue Kultur und Welt ein und finde Herzensmenschen. Dieses Monat ist ein wertvolles Geschenk fürs Leben!!!!!!!!

Alte Computer, herumstehende Nähmaschinen, Instrumente und ein unbelebter Kreativraum

Investoren investieren z.B. in Häuser und fragen dann, warum sie nicht voll ausgelastet sind. Also sollen mehr Kinder ins Dorf kommen, wobei das Personal fehlt… vor allem Pädagog*innen und Psycholog*innen. Es gäbe hier auch viele Möglichkeiten den Kids spezifische Fertigkeiten beizubringen. Aber das Musikhaus mit Instrumenten, das Nähhaus mit Nähmaschinen, das Kreativhaus mit Mal- und Bastelsachen und das Computerhaus mit alten Geräten, stehen die meiste Zeit leer. Freiwillige Schneider*innen, Musik-, Englisch- und IT-Lehrer*innen, Künstler*innen und Sportler*innen, hätten hier viel Raum etwas zu bewirken…! Ein Künstler besucht das Kinderdorf jährlich und setzt mit den Kids Kunstprojekte um, um auch in seinem Land auf Straßenkinder in Bolivien aufmerksam zu machen – auch das ist möglich.

Was haben Erziehung, Religion und Sport gemeinsam? Werte vermitteln!

…Erziehung

Die Erziehung und der Tagesablauf sind hier strukturiert, streng und diszipliniert. Und das muss wahrscheinlich auch so sein, um diesen bunten Haufen im Zaum zu halten und Kompetenzen, wie Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit und einen geregelten Tagesablauf, aufzubauen. Vor allem für Kinder, die keine Strukturen kennen und auf der Straße aufgewachsen sind. Die Kinder gehen jetzt in öffentliche Schulen, machen ihre Hausaufgaben miteinander, putzen, garteln, waschen ihre Wäsche und decken den Tisch. Am Wochenende wird gemeinsam gekocht und immer wieder das eigene Brot gebacken. Alle haben ihre Aufgaben zu erfüllen und der Tag ist durchgetaktet. Für mich wirkt das anfangs befremdlich, wenn ich an meine unbekümmerte Kindheit zurückdenke, wo das alles scheinbar von selbst erledigt wurde (danke an alle, die sich angesprochen fühlen 🙂 ). Gleichzeitig beeindrucken mich die Selbstständigkeit und vielfältigen Fähigkeiten der Kinder zutiefst und mir wird klar: genau diese Praxis des Selbsterhalts, der Selbstständigkeit und Disziplin werden den Kids in Zukunft, wenn sie bald auf sich gestellt sind, weiterhelfen… und hätten mir in dem Alter völlig gefehlt.

…Religion

Nein ich bin nicht religiös, empfinde aber großes Interesse und Faszination für Glaube, Religionen und für die großen Fragen des Lebens und des Todes. Und einmal mehr durfte ich den Mehrwert eines gemeinsamen Wertesystems, von richtungsweisenden Leitsätzen und von Worten der Dankbarkeit erfahren und erkennen. Denn egal, ob Gott die Welt in 7 Tagen erschaffen hat, Engel vom Himmel gestürzt sind, oder Kain seinen Bruder Abel umgebracht hat. Im Grunde steht hinter all den Geschichten ein gemeinsamer Wert in Mittelpunkt: Nächstenliebe. Alalay lebt diesen Wert, hat christliche Wurzel und ist durch religiöse Rituale gestützt und geprägt. Das Tischgebet gehört genauso dazu wie der Kirchenbesuch. “Aber ich bin keine Christin”, sagt eines der Mädchen. “Das musst du auch nicht sein! Du lebst aber an einem christlichen Ort, solange hast du zumindest gemeinsame Rituale und Werte hier zu respektieren.” Und das gilt auch für mich und ganz generell.

…Sport

Zweimal die Woche gehen die Kids voller Freude zum Fußballtraining Real Madrid. Auf ihren Trainingsanzügen stehen Werte, wie Fairness, Zusammenhalt und Respekt. Der Teamsport vermittelt das, worauf sich die Erzieher*innen auch zu Hause im Alltag immer wieder beziehen. Nach einer Chaoswoche im Bubenhaus voller Respektlosigkeit und Missachtung jeglicher Regeln wird mir die Wichtigkeit verschiedener Wege der Wertevermittlung bewusst. Betreuer Pablo erinnert die Buben am Ende der Woche an Werte, die sie am Fußballfeld lernen, reflektiert über ihr Verhalten in dieser Woche, benennt Fehlverhalten “Essen aus der Großküche unerlaubt zu nehmen, ist stehlen”, erklärt und zieht Konsequenzen. “Seid ihr also bereit diese Verantwortung anzunehmen?”, fragt Pablo am Ende. “Nein”, sagen die Buben. Ich bestaune die Ruhe, Geduld und Ausdauer der Erzieher*innen immer wieder aufs Neue!

Von Vorbildern lernen

Generell lerne ich bei Alalay bewundernswerte und äußerst kompetente Menschen kennen, groß und klein, und lerne von jedem/r einzelnen voller Staunen. Besonders beeindruckt mich Kassandra, die selbst bei Alalay aufgewachsen ist und nach einem Pädagogikstudium hier als Betreuerin arbeitet. Mit einem bezaubernden Mix an Fröhlichkeit, Freundlichkeit, Konsequenz und Verständnis für die Mädels. Was für ein schöner Weg, die eigene Vergangenheit und Zukunft zu vereinen. Ihre beiden Brüder leben im Ausland und haben sich dort ebenfalls ein gutes Leben aufgebaut…dank Alalay.

Keine Brücke zur Bildung!

Es ist Februar, bolivianischer Sommer und Regenzeit. Aber auch Schulbeginn! Auch wenn es in Huajchilla meistens schön ist, regnet es scheinbar in den Bergen oft. Denn die durchlaufenden Flüsse gehen regelrecht mit braunem Schlammwasser über. Auch vor dem Kinderdorf gibt es ein Flussbett, das nur an starken Regentagen gefüllt ist. Meistens ist das in der Nacht und in der Früh der Fall, wenn die Kids in die Schule müssen. Problem: es gibt keine Brücke – die wurden schon 2x errichtet und wieder weggeschwemmt. Das Flussbett besteht morgens dann noch aus keinen, reißerischen Flussadern und aus Schlammmassen, die weit über das Ufer hinaus gehen. Regelmäßig stehen die Kinder fix und fertig gestriegelt vor dem Fluss, um zu realisieren, dass sie nicht queren können, aka nicht zur Schule können. Die Frustration ist groß, vor allem als es dann der 3. Tag in Folge ist. Eines der Mädels weint ganz bitterlich “aber ich muss zur Schule, ich hab alles vorbereitet und mein Mathelehrer versteht das mit dem Fluss nicht”. Der ganze Frust wird auf die Erzieherinnen abgeladen, die den ganzen Morgen damit verbracht hatten eine Lösung für die 35 Kinder zu finden. “Wir wollen doch auch, dass ihr zu Schule geht, aber es ist heute zu gefährlich” – “dann finde ich meinen eigenen Weg”, spricht der Trotz. Die Emotion und Aussichtslosigkeit jagt mir auch Tränen in die Augen. Am selben Tag kommt noch Claudia, die Gründerin von Alalay, mit einem Experten ins Kinderdorf, um eine langlebige Lösung zu finden. Eines steht aber fest: ein Brückenbau wird ein teures Projekt.

Was für ein Schulweg…

Ich denke mir immer wieder – das kann doch nicht sein, dass 35 Kids wegen Regen zuhause bleiben müssen. Es muss doch einstweilen eine einfache Lösung geben… Bis ich einen der Lösungsversuche miterlebe. Pablo steht mit hohen Gummistiefeln bis zum Rand in Schlamm und Wasser und transportiert die Kids huckepack über die gefährlichen Stellen. An anderen Stellen sind Paletten und Baumstämme aufgelegt, über die die Kids balancieren. An den Flussufern sollen große Steine Stufen bilden und oben steht jeweils eine Person, die den Kids aus dem steilen Schlammhang hilft. Alles ist wackelig und dauert ewig. Für die Großen ok, für die Kleinen nicht möglich. So kommen wir nicht weiter. Also kommt der Nachbar mit seinem Traktor vorbei und schüttet zuerst Schlamm auf, um sich einen “Weg” zu ebnen. Dann wird mit Gestrüpp die Schaufel des Traktors ausgelegt, um die Kids aufzuladen. Durch den matschig, holprigen Fluss geht die Schaufel am anderen Flussufer hoch und die Kids klettern heraus. Nach 3 Ladungen sind alle Kids auf der anderen Seite. Die ganze Aktion dauer 2h. Was für ein Schulweg!!! Die Kids kommen spät zur Schule und werden zum Teil wieder nach Hause geschickt, weil sie schmutzig in der Schule ankommen. Am nächsten Tag ist alles weggespült, der Fluss sucht sich neue Wege und alles beginnt von vorne. Nein das ist nichts für alle Tage.

Vom Ausbrechen und Weglaufen

…das war (und ist zum Teil noch heute) auch meine Coping-Strategie. Der Unterschied: wenn Kinder von Alalay ausbrechen, kippen sie schnell wieder in ihr Straßenverhalten, schlafen unter Brücken, in Kartongebilde, oder in dafür bekannten Spielhallen, wo sie im schlimmsten Fall misshandelt werden. Sie stehlen und verkaufen auf der Straße, putzen Schuhe und Drogen sind ein großes Thema. Suchaktionen und Sorgen dauern Tage und Wochen und im besten Fall geht alles gut aus. Zwei der Mädels sind im Jänner mehrmals weggelaufen und hatten jetzt mit der Aufarbeitung und mit den Konsequenzen umzugehen. Ich darf dabei sein, als die Sozialarbeiterin sie für den letzten Schritt dieses Prozesses vorbereitet: sie sollen über die Gefahren auf der Straße reflektieren und diese vor dem gesamten Kinderdorf präsentieren, einsichtig sein und sich entschuldigen. Ufff. Das ganze geht, aus meiner Sicht, eher nach hinten los. Zum einen ist die Einsicht bei einem der Mädels (noch) nicht angekommen, zum anderen war die Präsentationssituation eher verstörend. Die Mädels waren so nervös, dass sie keine 5 Wörter rausgebracht haben und wurden dafür kritisiert. Wenn ich daran denke, wie wichtig es im Leben ist uns selbst und etwas gut zu präsentieren, hat diese Situation sicher nicht geholfen. Ich hoffe, sie haben trotzdem aus der Lektion gelernt und brechen zumindest nicht mehr aus, was ja Sinn und Zweck der Aktion war. Aus den Aldeas Huajchilla gab es in der Vergangenheit auch Ausbruchsversuche einiger Mädels aus Station 2 des Programms (= neu im Kinderdorf), die mit den Mädels der Station 4 (= am Weg ins selbstständige Leben) im Haus Hovde zusammen leben. Die Mädels hatten große Schwierigkeiten, ihr Straßenverhalten abzulegen und haben sich bei den Ausbruchsversuchen in Gefahren gebracht. Schließlich wurden sie in das Stadthaus in El Alto umgesiedelt, das weitaus verschlossener ist und in einem ärmeren und prekäreren Stadtteil von La Paz auf 4.800m angesiedelt ist. Ich besuche das Haus ein paar Male, da das Programm “Straße” (Station 1) hier auch Räumlichkeiten für diverse Aktionen mit den Straßenkids nutzt…

Die Straße – Programma Calle

Vorab hatte ich hiervor den größten Respekt, erlebe aber auch die größten Überraschungsmomente. Mit Ungewissheit, was mich erwartet, treffe ich den faszinierendsten Menschen überhaupt – José, der Pädagoge des Programms Calle. Josè wollte eigentlich Priester werden, hat sich dann aber der Philosophie und jetzt der Pädagogik gewidmet und hofft auf ein Stipendium in Europa bzw Österreich (jegliche Tipps herzlich willkommen!!) Sein absolutes Talent ist der Umgang mit Menschen…mit den Kids, den Eltern, aber auch mit mir. Er holt mich inhaltlich und emotional ab, erklärt toll, was alles auf mich zukommt und weiht mich in viele Situationen und Vorgeschichten ein. Dann darf ich bei einem online Meeting zu einem Dokumentationsfilm dabei sein, der auf die Straßenkinder von Alalay aufmerksam macht. Mit dem gesamten Team und dem Regisseur aus Dänemark wird über die Präsentation der Dokumentation auf Filmfestivals diskutiert und ausgetauscht, welche Neuigkeiten es von den Protagonisten gibt, die ihren Alltag mit dem Handy filmen. Dann treffen wir einen der Protagonisten: den 19 jährigen Oscar. Er lebt immer wieder auf der Straße und verfällt dem Alkohol. Und da steht er, ein gut aussehender, höflicher, junger Mann. Er hilft José 2x die Woche aus und wir dürfen diese Tage gemeinsam Aufgaben erledigen und mit den Kids helfen. Als wir dann einige Familien und Kinder beim Teleferico (Seilbahnnetz und öffentliches Verkehrsmittel in La Paz) treffen, nimmt mich José zu den Gesprächen mit den Eltern mit. Ein Papa hat jetzt aufgrund seines Alkoholproblems seinen Job verloren und sitzt wieder samt Familie auf der Straße. “Tu puedes” – “du schaffst das”, höre ich am meisten. Der Papa weint. Später sprechen wir mit der Mama. Ich bin fasziniert, wie sie sich José öffnet und Rat sucht. “Manchmal blockieren uns gesellschaftliche Normen und Vorstellungen, dass Kinder Mutter und Vater brauchen…. Du musst entscheiden, was das Beste für dich und deine Kinder ist. Ich unterstütze dich.”, versichert er.

Meine Mama ist auch 35


Bei den Kids sind auch Geschwister von Oscar dabei – zuhause sind sie 7 Kinder. Die kleine Schwester hängt gleich an mir und ich schließe sie ins Herz. Bei der Aktivität teilen wir befüllte Federpenale und Schulhefte aus, zeichnen, was Glück für uns ist, und spielen Kennenlernspiele. Die Kennenlernrunde der süßen Kids sieht so aus: “Hallo ich bin …,  bin 5 Jahre alt,  spiele gerne Fußball und verkaufe Süßigkeiten auf der Straße.” Wow. Wir essen gemeinsam und die Kids bekommen ein Essen mit nach Hause. Am Weg zurück zu den Eltern fragt mich die kleine Schwester, wie alt ich bin. 35… “…genau wie meine Mama!”, sagt sie. Es ist wie ein Stich ins Herz. Diese Gemeinsamkeit bringt mich sofort auf den Gedanken, wie meine 35 Jahre verlaufen sind und wie wohl ihre verlaufen sind, mit 7 Kindern und dem Leben auf der Straße. Das einzige, was ich weiß ist, dass sie mit Oscar und seiner Schwester fantastische Kinder großgezogen hat, und das erfüllt mich wiederum mit Stolz.

Kinder, die ihre Eltern bestehlen und bedrohen

Josè erzählt mir auch von einem aktuellen Problem: Eines der Kids ist von Zuhause weggelaufen, hat seine Eltern bestohlen und bedroht sie jetzt. Die verzweifelte Mama hat sich an José gewandt und er spielt mir die Sprachnachricht des Sohns an seine Mama vor: er sei entführt worden, es sei ihre letzte Chance und es wird Lösegeld verlangt. Heftig. Die nächste Woche taucht der Bub zur Aktivität auf und José aber auch das gesamte Team heißt ihn herzlich willkommen und sucht immer wieder das Gespräch. In derselben Woche haben wir eine weitere Aktivität, bei der Familien und Kinder erstmals dabei sind. Die Eltern werden mit den Kids in das Stadthaus El Alto eingeladen, es werden Gespräche geführt, die Kinder mit Daten registriert, Aktivitäten gemacht und gemeinsam gegessen. Ich darf ein Spiel übernehmen. Wir sind über 50 Leute, 28 Kinder… Überforderung pur. Als ich abends in mein Zimmer komme, habe ich Fieber. José auch. Beim nächsten Mal steht Hygiene im Vordergrund. Oscar und ich besorgen Zahnbürsten, Handtücher, Feuchttücher etc. und die Kinder üben Zähneputzen und Händewaschen und dürfen ihr Handtücher mit ihren Namen bemalen. Hygiene steht ab jetzt immer an, wenn sie das Haus betreten. Josè lädt mich ein, bei der Kontaktaufnahme mit neuen Kindern dabei zu sein. Ich interessiere mich brennend dafür, aber meine Zeit bei Alalay ist zu Ende.

Was würdest du machen, wenn …

… deine Kinder dich bedrohen, bestehlen, weglaufen und fremde Menschen bedrohen und bestehlen? – fragt mich, passend aber unabhängig zu meinen Erlebnissen, die Sozialarbeiterin Anahi im Kinderdorf. Ich überlege. Mir fällt nur mein Stiefpapa Bernhard ein, der mich mit zum Gericht nehmen wollte, als ich als Jugendliche Zuckerl gestohlen hab und dabei erwischt wurde. “Aber dieses Anfangsstadium haben diese Kinder schon längst überschritten”, meint Anahi – “Was machst du?”. Ich weiß es nicht. Es ist auch schwierig und vielleicht gibt es kein allgemeingültiges Rezept. “Konsequenzen vermittel ist gut, alternative Lebensweisen zeigen auch. Aber man hat nie in der Hand, was das Kind annimmt.”, meint Anahi.

Über Sorgen

Es gibt immer wieder kleine Situationen, die mich sehr betroffen machen und zu geheimen Tränen rühren. Am Wochenende, wenn ich mit etwas Abstand zur Ruhe komme, überkommt mich auch die Emotion. Ob Trauer, Faszination, Dankbarkeit oder einfach die Vielzahl an neuen Eindrücken, weiß ich selbst nicht genau. Als einer der Buben vom Stockbett fällt und dann über starke Kopfschmerzen klagt und sich vielmals übergibt, fühle ich mich und ihn nicht ausreichend gehört. Als er dann ins Krankenhaus gebracht wird, bin ich froh, mich plagen aber auch riesige Sorgen. Alles geht gut aus. Ich weiß nicht, ob eine bessere Abgrenzung mit der Zeit kommt oder ob das überhaupt möglich ist. Jedenfalls habe ich den größten Respekt vor all den Menschen, die den Spagat zwischen liebevollen Herzblut für die Kids und dem eigenen Wohlbefinden schaffen.

Last but not least!

Zu guter Letzt möchte ich noch ein paar Punkte erwähnen:
– Die Fundación Alalay ist umfangreicher, als ich in meinem persönlichen Erfahrungsbericht erzähle. Es gibt noch ein Kinderdorf in Santa Cruz, ein ganzes Präventionsprogramm, 5 Fußballschulen, die 1.800 Kinder betreuen und verschiedene Projekte.
– Außerdem gibt es auch in Österreich viele sozial benachteiligte, von Armut betroffene oder misshandelte Kinder. Kinder ohne Eltern oder mit Eltern, die sich nicht um sie kümmern können… und Straßenkinder. Sozialvereine wie SOS-Kinderdorf unterstützen Kinder in Österreich.
– Ich habe mich dazu entschieden in Bolivien zu helfen und auch eine Patenschaft bei Alalay zu übernehmen, weil Bolivien es noch nicht geschafft hat ein funktionierendes Sozialsystem aufzubauen, sich von der Unterdrückung seit der Kolonialisierung zu befreien und ein stabiles Land für seine Menschen zu sein. Ich habe mit Alalay eine tolle Organisation kennengelernt, für die ich meine Hand ins Feuer legen würde. Außerdem kann ich hier direkt ein Kind individuell unterstützen und der zwischenmenschliche Austausch wird gefördert.
– Und nein, niemand hat mich um diesen Bericht oder eine Patenschaft gebeten 😉

Danke und Respekt, wenn dus bis zum Schluss geschafft hast!

3 responses to “ALALAY – Kinderdorf und Straßenkinder (by Carina)”

  1. Irmgard Uhl Avatar
    Irmgard Uhl

    ich bin stolz auf dich und freue mich für dich, dass du diese Erfahrung machen durftest

  2. Günter Avatar
    Günter

    Ein sehr interessanter Erfahrungsbericht. Muchas gracias.

  3. Claudia & Andreas Avatar
    Claudia & Andreas

    Gänsehaut & Begeisterung & Hochachtung beim Lesen

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